Intersexualität / Intergeschlechtlichkeit vor dem Hintergrund aktueller Debatten und gesellschaftlicher Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland

von Heinz-Jürgen Voß

 

Zuerst veröffentlicht und zitierbar als:
Voß, Heinz-Jürgen (2013): Intersexualität / Intergeschlechtlichkeit vor dem Hintergrund aktueller Debatten und gesellschaftlicher Entwicklungen in der BRD. In: Zabransky, Siegfried (Hg.): Proceedingband 2013, 11. Interdisziplinärer SGA-Workshop, 28.6.-29.6.2013: Eine interdisziplinäre Diskussion zum Thema Geschlechtsdifferenzierung und 'Geschlechtsidentitätsstörung'. Homburg: Medizinischer Verlag Siegfried Zabransky, S.82-88.

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In den vergangenen Monaten ist Bewegung in die Debatte um die medizinische Behandlungspraxis von intergeschlechtlichen Kindern gekommen. Von den früher entsprechend dem Programm Behandelten werden die medizinischen Interventionen als gewaltvoll und traumatisierend beschrieben. Auch die wissenschaftlichen Outcome-Studien, die die anatomischen und funktionalen Behandlungsergebnisse sowie die Behandlungszufriedenheit erheben, stützen die Sicht der politisch streitenden behandelten Menschen. Zuletzt kommen Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt (2012) zum Schluss: „Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle Vergleichsgruppe“ (Schweizer et al. 2012: 196f; Übersicht über die internationalen Outcome-Studien in: Voß 2012).
Anhand der im Regelfall durchgeführten mehreren operativen Eingriffe, der Entfernung der Gonaden, verbunden mit der Notwendigkeit dauerhafter Hormonersatztherapie, sowie den sich als Folge der medizinischen Eingriffe oft als notwendig ergebenden psychologischen Folgebehandlungen sind bei nahezu allen Behandelten die Kriterien erfüllt, die medizinisch als schwere Komplikationen beschrieben werden. Zugleich erfüllten sich die Erwartungen der Medizin, die sich in den 1950er und 1960er Jahren in den Grenzen einer geschlechtlich und sexuell intoleranten Gesellschaft bewegten, nicht. In der Zeit ging man davon aus, dass ein „eindeutiges Erscheinungsbild“ der Genitalien als „weiblich“ oder „männlich“ notwendig sei, damit ein Kind eine „eindeutige Geschlechtsidentität“ ausbildet und keinen Diskriminierungen / Hänseleien etwa im Schulbereich ausgesetzt ist. Die Geschlechtsidentität wurde wiederum nicht im Sinne einer eigenen individuellen geschlechtlichen und sexuellen Verortung verstanden, sondern lediglich als Annehmen einer der beiden gesellschaftlich akzeptierten und stereotyp gedachten Geschlechterrollen. Bereits Homosexualität galt als Hinweis darauf, dass sich keine eindeutige Geschlechtsidentität ausgeprägt habe und selbst Homosexualität galt den Mediziner/-innen als zu behandelndes Verhaltensmerkmal (vgl. Voß 2013). Das Behandlungsziel bzgl. Intersexualität wurde einerseits schon insofern nicht erreicht, weil selbst bei dem als wichtig erachteten Erscheinungsbild der Genitalien (das funktionale Ergebnis der Eingriffe wurde von der damaligen Medizin als zweitrangig gesehen) kein in dem definierten Sinne der Norm akzeptables Genital erreicht wurde, das etwa vor Hänseleien im Schulbereich geschützt hätte – darüber geben die Outcome-Studien Auskunft, u.a. wurden bei „männlicher Geschlechtszuweisung“ nur „geringe Penislängen“ erreicht (vgl. Voß 2012: 42-72). Gleichzeitig ist es aus den vorliegenden Ergebnissen zu den Behandlungsergebnissen und zur Behandlungszufriedenheit notwendig zu fragen, ob es legitim ist, erwartete gesellschaftliche Diskriminierung durch gewaltvolle, traumatisierende, gefährliche medizinische Eingriffe abwenden zu wollen. Die Gefährdung durch die Eingriffe wiegt schwerer als die als möglich angenommenen Hänseleien.
Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik verändert die Basis für Rechtfertigungen von Behandlungen grundlegend: Sie geht juristisch und sozial in die Richtung, plurale geschlechtliche und sexuelle Identitäten zu akzeptieren. Die Begründungen des Behandlungsprogramms sind damit weggefallen.

Der Deutsche Ethikrat kam in seiner Stellungnahme Intersexualität 2012 zu dem klaren Ergebnis: „Etliche Betroffene sind aufgrund der früher erfolgten medizinischen Eingriffe so geschädigt, dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert.“ (Deutscher Ethikrat 2012: S.165) Und auch der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages fällte nach seiner Sitzung im Juni 2012 ein eindeutiges Urteil. In seiner Pressemitteilung heißt es: „Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und sollen zukünftig unterbunden werden. Dies war das einhellige Votum der öffentlichen Anhörung im Familienausschuss am Montagnachmittag.“ (Familienausschuss 2012)
Während der Deutsche Ethikrat in der im Februar 2012 veröffentlichten Stellungnahme nur zögerliche Ableitungen aus den Erhebungen der Behandlungszufriedenheit und den Behandlungsergebnissen zog, kommen die sich informierenden politischen Entscheidungsträger/-innen vor dem Hintergrund der fortgesetzten Debatten nun zu klaren Folgerungen. Die Regierungskoalition veränderte die Personenstandsregelungen, enthielt sich dabei aber zunächst zum Behandlungsprogramm (vgl. Bundestag 2013). Damit ist aber auch keine solche gesetzliche Regelung mehr vorhanden, die teilweise als Forderung nach einer eindeutigen geschlechtlichen Einordnung (und ggf. Zuweisung) von Kindern als „weiblich“ oder „männlich“ verstanden wurde. Die Oppositionsparteien legten weitreichende Anträge vor, die sich für ein Verbot geschlechtszuweisender Eingriffe bei Kindern und unter anderem für Entschädigungen an die behandelten intergeschlechtlichen Menschen aussprechen (Bündnis 90 / Die Grünen 2013; Die Linke 2013).
Verantwortungsvolle Medizin sollte dem nicht nachstehen, da sie doch – unter sich wandelnden gesellschaftlichen Prämissen – dem Wohl der Menschen dienen will. Erweist sich ein Behandlungsprogramm als schlecht und auf Grund einer geschlechtlich und sexuell zunehmend pluralen und akzeptierenden Gesellschaft als nicht mehr zeitgemäß, so wäre von Mediziner/-innen zu erwarten, dass sie zu den Vorreiter/-innen der Veränderungen werden. Also warum das Beharren? Bisher in der Debatte – etwa in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren – zeigten sich die entscheidenden medizinischen Akteur/-innen lediglich zu kleineren Korrekturen am Behandlungsprogramm bereit. So wurde etwa in den Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin zu „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ (engl. disorders of sex development [DSD]), die allerdings lediglich dem S1-Niveau entsprechen (Konsens eines Expert/-innen-Gremiums ohne Einfluss von Selbstorganisationen behandelter Menschen und ohne systematische Evaluation der Behandlungen und des Outcomes), eine bessere Information der Patient/-innen selbst und ihrer Eltern angemahnt. Auch eine bessere Diagnosestellung und eine Behandlung durch explizit geschulte Fachkräfte, die mit der Diagnose Intersexualität vertraut sind, wurden eingefordert (Holterhus et al. 2007). Das in Diskussion stehende Behandlungsprogramm wurde hingegen nicht grundsätzlich in Frage gestellt, obgleich dies auf Basis der Behandlungsergebnisse und der Aussagen intergeschlechtlicher Menschen erforderlich gewesen wäre. Stattdessen wich diesbezüglich die rationale medizinische Argumentation einer irrationalen der Zukünftigkeit: Lediglich in der Vergangenheit habe es die massiven Probleme bei den medizinischen Interventionen gegeben, heute seien sie nicht mehr so schlecht (vgl. etwa Warne 2012). Aber dieses Argument ist alt – bereits im Jahr 2000 berichtete Michel Reiter davon beim Berliner Fachkongress der European Federation of Sexology (vgl. Reiter 2000). Heute zeigt sich, dass die Behandlungen auch im Jahr 2000 keinesfalls oder lediglich unwesentlich besser als zuvor waren. In diesem Sinne ist die Argumentation mit Zukünftigkeit eine strategische Figur – ein Teil der streitenden Positionen wird zu Unrecht als „nicht auf der Höhe der Zeit“ markiert. Damit beraubt sich aber die Medizin der Möglichkeit der Diskussion und es wird unmöglich, medizinische Behandlungen tatsächlich so zu entwickeln, dass sie Menschen nicht schaden, sondern nützen. Und man beraubt sich der Möglichkeit, selbst „auf der Höhe der Zeit“ zu sein und gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen, die aktuell in die Richtung der Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Pluralität weisen.

Derzeit treibt die Politik die Medizin. Das sollte anders sein. Zwar können Ausführungen von behandelten Menschen Mediziner/-innen auch einmal persönlich verletzen. Aber einerseits sollten diese Darstellungen ernst genommen werden, gerade vor dem Hintergrund der bzgl. Intersexualität drastischen medizinisch verursachten Leidensgeschichten bei vielen dieser Menschen. Mediziner/-innen sollten gerade aus den Erfahrungen lernen und eine Vorreiterrolle bei der Abwicklung des Behandlungsprogramms einnehmen. Schließlich ist es zu begrüßen, dass in Folge sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse Diagnoseschlüssel und Behandlungsprogramme abgeschafft werden können – Susanne Billig fasst die Auswirkungen zunehmender gesellschaftlicher Toleranz und Akzeptanz bzgl. Homosexualität plastisch: „Es war die größte Massenheilung der Geschichte: Als die Weltgesundheitsorganisation 1991 die Homosexualität aus der "Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD)" strich, wurden Abermillionen gleichgeschlechtlich Liebender schlagartig von psychisch schwerkranken zu kerngesunden Menschen.“ (Billig 2013) Gesellschaftlich sind die Grundlagen da, damit das nun auch bzgl. Intergeschlechtlichkeit gelten kann. Das eigene Fachethos sollte bei Mediziner/-innen diese Position unterstützen, ökonomische Zwänge etwa in Kliniken nicht hindern. Durch die aktuellen Debatten und Gesetzesinitiativen scheint auch klar, dass sich das Behandlungsprogramm so nicht fortsetzen lassen wird. Mediziner/-innen haben lediglich die Entscheidung, ob sie durch juristische Instanzen weiterhin getrieben werden wollen (ggf. sogar für Handeln persönlich belangt werden, da die desaströsen Ergebnisse der Outcome-Studien nun einmal vorliegen und bekannt sind) oder ob sie sich hier als Akteur/-innen einer pluralen und akzeptierenden gesellschaftlichen Entwicklung klar positionieren – und die geschlechtszuweisenden Eingriffe bei Kindern jetzt beenden. Da die geschlechtszuweisenden Eingriffe so weitreichende Wirkungen haben und gefährlich sind, können sie nur auf Veranlassung des jeweiligen „betroffenen“ Menschen selbst erfolgen.

 

Literatur
Billig, S. (2013): Rätselraten über die Homo-Liebe. Online: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/2042518/ (Zugriff: 15.4.2013).
Bundestag (2013): Die Beschlüsse des Bundestages am 31. Januar und 1. Februar. Online: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/42726396_kw05_angenommen_abgelehnt/index.html (Zugriff: 15.4.2013).
Bündnis 90 / Die Grünen (2013): Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren. Online: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/128/1712859.pdf (Zugriff: 15.4.2013).
Deutscher Ethikrat (2012): Stellungnahme Intersexualität. Online: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf (Zugriff: 15.4.2013)
Die Linke (2013): Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren. Online: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/128/1712859.pdf (Zugriff: 15.4.2013).
Familienausschuss (2012): Experten: Intersexualität ist keine Krankheit. Pressemitteilung des Deutschen Bundestages zur Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Anhörung) vom 25.06.2012. Online: http://www.bundestag.de/presse/hib/2012_06/2012_314/01.html (Zugriff: 15.4.2013).
Holterhus, P. M., Köhler, B., Korsch, E., Richter-Unruh, A. (2007): Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin – Störungen der Geschlechtsentwicklung. Online: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/027-022.htm (Zugriff: 15.4.2013).
Reiter, M. (2000): Medizinische Intervention als Folter. (Abdruck des Vortrags vor der European Federation of Sexology.) GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, 9. Online: http://www.gigi-online.de/intervention9.html (Zugriff: 15.4.2013).
Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (2012): Die Hamburger Studie  zur Intersexualität – Ein Überblick. In: Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (Hrsg.): Intersexualität kontrovers – Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Voß, H.-J. (2012): Intersexualität – Intersex: Eine Intervention. Münster: Unrast.
Voß, H.-J. (2013): Biologie & Homosexualität: Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext. Münster: Unrast.
Warne, G. L. (2012): Fragen im Zusammenhang mit der Behandlungen von Störungen der Geschlechtsentwicklung. In: Schweizer, K., Richter-Appelt, H. (Hrsg.): Intersexualität kontrovers – Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

 

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