Geschlecht und Biologie: Die Geschlechtsentwicklung beim Menschen - warum es biologisch Frau und Mann nicht gibt. Homepage von Dr. Heinz-Jürgen Voss.

aus: ak - zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 547 vom 19.2.2010. Herzlichen Dank für die Genehmigung zur Online-Veröffentlichung auf dieser Homepage!

 

Alles bio? Auch aus biologischer Sicht gibt es mehr als zwei Geschlechter

Was für "gesellschaftliches Geschlecht" (gender) verbreitete Annahme ist - nämlich, dass es gesellschaftlich hergestellt ist -, ist für "biologisches Geschlecht" (sex) hoch umstritten. So erntete Judith Butlers bereits 1990 erschienenes Buch "Gender trouble" breite Kritik. Nach Butler werden auch körperliche Merkmale erst durch eine gesellschaftliche Brille gelesen. Auch deren Beschreibungen unterlägen gesellschaftlichen Deutungen, die die Wahrnehmungen prägen würden. Das, was an körperlichen Merkmalen benannt wird, wie es benannt wird und wie es mit weiteren Deutungen belegt wird, sei bereits gesellschaftlich beschränkt und beschränke sich daran anschließende Deutungsmöglichkeiten.

Kritik erntete dieser Ansatz zunächst aus einer anderen feministischen Richtung, die zwar gewillt war, gender als gesellschaftlich hergestellt anzuerkennen, sex jedoch als vorausgesetzten Unterschied abgetrennt hatte. Für diese Gegenwehr gab es gute Gründe: Gerade mit der Aufspaltung in gender und sex war es feministischen Bewegungen gelungen aufzuzeigen, dass Beschreibungen der Differenz "weiblicher" und "männlicher" Körper nicht herangezogen werden dürften, um eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung von "Frauen" und "Männern" zu begründen. Beschrieben diese Ansätze "biologisches Geschlecht" auf der einen Seite als vorgegeben und unabänderlich, sahen sie auf der anderen Seite gesellschaftliche Ungleichbehandlungen, die schlechten Zugänge von Frauen zu lukrativen und prestigeträchtigen Positionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft als Produkte gesellschaftlicher Benachteiligungen.

Durchaus berechtigte Bedenken aus dieser Richtung bezogen sich darauf, wie denn Benachteiligungen von Frauen, wie unterschiedliche Behandlungen von Frauen und Männern in der Gesellschaft noch beschrieben werden sollten, wenn es Frauen und Männer als Subjekte, als überzeitliche Kategorien nicht mehr gäbe. Notwendig ist jedoch beides: einerseits das klare Benennen differenter Behandlungen von Frauen und Männern in der Gesellschaft, um Benachteiligungen und Bevorteiligungen entgegentreten zu können, andererseits die Wahrnehmung sowohl von gesellschaftlichem als auch biologischem Geschlecht als gesellschaftlich hergestellte und veränderbare Kategorien.

Judith Butlers Ansatz reicht nicht weit genug

Die im folgenden dargelegte Kritik an Butlers Ansatz bezieht sich jedoch darauf, dass er nicht weitreichend genug ist. Butler verblieb auf der Ebene von "Erscheinungen", auf der Ebene performativer Herstellung. Butler führte exzellent aus, dass Merkmale, dass Körper erst in Gesellschaft gelesen werden und dass damit geschlechtliche Deutungen auch gesellschaftliche sind. Diese These ist durch die historischen Arbeiten von Thomas Laqueur, Londa Schiebinger und Claudia Honegger gut belegt - so wandelten sich zeitlich die körperlichen (physiologischen und anatomischen) Merkmale, die als geschlechtlich gelesen wurden. Lange Zeit wurden weibliche und männliche Zeugungsstoffe gleichermaßen als "Samen" beschrieben, z.T. mit Unterscheidung der Qualität; sie wurden allerdings nicht als binär und gegensätzlich wahrgenommen, wie es heute oftmals geschieht.

Mit der Betonung performativer Akte erscheinen Deutungen als gesellschaftlich, allerdings bleiben Körper und Organe - vermeintlich vorhandene Materialität, die anfassbar sei - unangetastet. Auch mit Butlers Ausführungen bleiben in der öffentlichen - populären und wissenschaftlichen - Debatte "Gebärmutter", "Vagina", "Klitoris", "Eierstock", "Penis", "Hodensack", "Hoden" Bezeichnungen für scheinbar sichere, tatsächlich vorhandene Organe, die zur gut begründeten Einteilung von Menschen in "Frauen" und "Männer" bei wenigen "Abweichungen" herangezogen werden könnten. Die derzeitige gesellschaftliche Deutungsweise von körperlichen Merkmalen als binär-geschlechtliche erscheint als selbstverständliche, die sich beim Lesen der "natürlichen Vorgegebenheiten" aufdränge.

Dieser Beitrag soll einige kritische Gedanken anstoßen, wie ein anderes Verständnis von "biologischem Geschlecht" generiert werden kann. Wichtiger Ausgangspunkt für solche Betrachtungen kann entwicklungsgeschichtliches Denken sein. Die Betrachtungsweise, dass es sich bei der Ausbildung eines "Genitaltraktes", wie auch bei der Entwicklung eines ganzen Individuums, um Entwicklungsprozesse handelt, bringt es mit sich, dass viele Faktoren und insbesondere ihre Wechselbeziehungen in den Blick gelangen. Ein solcher Fokus auf Entwicklung kehrt sich bezüglich der Ausbildung des "Genitaltraktes" von dem verbreiteten Denken ab, dass ein "Gen" oder wenige "Gene" die Ausbildung weitreichend bestimmten, dass durch die Chromosomen- und Gen-Konstitution in der befruchteten Eizelle die Ausbildungsrichtung in entweder eine "weibliche" oder eine "männliche" Richtung vorbestimmt - präformiert - sei.

Dieses Denken, dass Vorbestimmung - Präformation - zentral setzt, hat traditionsreiche Höhepunkte. Solche Höhepunkte waren die Präformationstheorien des 17. Jahrhunderts, in denen davon ausgegangen wurde, dass entweder im "weiblichen Ei" (so argumentierten die "Ovisten") oder im "männlichen Samen" (so führten es die "Animalkulisten" aus) das Individuum bereits vollständig vorgebildet sei. Dieses Individuum in Miniatur sitze in Ei oder Samen und müsse lediglich an Größe zunehmen. Diese Betrachtungen waren beeinflusst durch Vorannahmen eines christlichen Schöpfungsaktes, in denen davon ausgegangen wurde, dass ein "Gott" in wenigen Tagen alles geschaffen habe, was existiere und was in Zukunft noch existieren werde.

Miniaturindividuen wie beim Matrjoschkamodell

In diesen Präformationstheorien wurde teilweise dargestellt, dass entweder im Samen Adams oder im Ei Evas alle (!) folgenden Generationen an Menschen bereits als Miniaturindividuen vorhanden gewesen seien, dass - ähnlich einem Matrjoschkamodell mit vielen Millionen Schalen - die Generationen ineinander geschachtelt vorgelegen hätten. So absurd uns die präformistische Ausführung in dieser Form heute erscheinen mag, so ähnlich sind - wenn auch in etwas anderer Fassung - die Behauptungen der modernen Genetik. Es wird behauptet, dass im Extremfall ein "Gen" oder ein Netzwerk mehrerer "Gene" "Informationen" enthalten würde; sie müssten lediglich zur Ausprägung gelangen. In aktuellen biologischen Theorien der Ausbildung des "Genitaltraktes" sind gerade Chromosomen und "Gene" zentral. Einige miteinander interagierende "Gene" würden bewirken, dass sich entweder "Hoden" oder "Eierstöcke" ausbilden würden, die dann die weitere Entwicklung bestimmten.

Einem solchen Denken entgegen stehen Entwicklungsgedanken. Sie wurden im 18. Jahrhundert bedeutsam und zeigten sich als breite gesellschaftliche Bewegung. Mit der Englischen Revolution sowie später und deutlicher mit der Französischen Revolution zeigte sich, dass eine Gesellschaftsordnung nicht vorgegeben, "Gott"-gewollt ist, sondern dass sie durch vernunftgeleitete Menschen selbst gestaltet werden kann. In der Philosophie wurden nun auch monistische Denkweisen zentral diskutiert und dualistische Denkweisen blieben nicht mehr weitgehend unwidersprochen. Geologisch wurde postuliert, dass die Erde über einen sehr langen Zeitraum durch Abkühlung entstanden sei - und nicht vor wenigen tausend Jahren von einem Schöpfergott geschaffen wurde.

Schließlich wurden in der Biologie Möglichkeiten der Übergänge zwischen Arten und der Neuentstehung von Arten beschrieben. Es handelte sich also um eine breite gesellschaftliche Bewegung, die sich auch in Beschreibungen der Ausbildung von neu entstehenden Individuen zeigte. Für diese Betrachtungen war die Epigenese die zentrale Theorie. In ihr wurde nicht mehr davon ausgegangen, dass ein einfaches Größenwachstum eines Individuums ausgehend von einem Miniatur-Zustand ausreichend sei, vielmehr wurden Entwicklung und Differenzierung betont. Zunächst liege ungeformte Materie vor, aus der durch Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse zunehmend Komplexität entstehe, schließlich geformte Materie und der Organismus resultiere. Auch der Organismus wurde als zeitlebens in Entwicklung befindlich beschrieben.

Ein Denken von Entwicklung, eine Betonung von Entwicklungsprozessen geht ab von wenigen kleinen vorbestimmenden Einheiten. Vielmehr wird es notwendig, den gesamten Organismus und dessen Wechselwirkungen mit der Umwelt zu betrachten. Das bedeutet, dass aus der Perspektive heutiger biologischer Wissenschaft die Kommunikation zwischen verschiedenen Bestandteilen der Zelle, die Kommunikation zwischen verschiedenen Zellen, deren Einbindung in den Organismus und die Einflussfaktoren aus der Umgebung im Blick sein müssen. "Gene", DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Organismus bzw. hier eines "Genitaltraktes" voraus. Vielmehr stellen sie lediglich einen Faktor im komplexen Zusammenspiel von Faktoren der Zelle dar.

Zunächst muss eine DNA-Sequenz in eine RNA-Sequenz übertragen werden. Dieser Prozess wird als Transkription bezeichnet: An seiner spezifischen Einleitung und Umsetzung sind zahlreiche zelluläre Faktoren beteiligt. Es entsteht ein so genanntes "Primär-Transkript", das verschiedenen chemischen Modifikationen unterzogen wird. Auch bei diesen handelt es sich um komplexe Prozesse mit zahlreichen beteiligten zellulären Faktoren. Schließlich muss das entstandene Transkript aus dem Zellkern ins Zellplasma transportiert werden, in dem weitere Prozessierungen stattfinden können - aber nicht "müssen". Das Transkript kann auch einfach abgebaut werden. Wird es nicht abgebaut, so kann die Translation stattfinden - wiederum ein komplexer Prozess mit zahlreichen beteiligten zellulären Faktoren -, an deren Ende eine Aminosäuresequenz vorliegt. Aber auch diese ist in den allermeisten Fällen noch kein Produkt, das in der Zelle (von diesen Prozessen unabhängige) Funktionen übernimmt. Vielmehr werden spezifische Faltungen angelegt, werden chemische Gruppen angelagert, abgespalten oder modifiziert, können ganze Teile der Aminosäuresequenz abgespalten bzw. herausgelöst werden.

Entwicklungstheorien weisen in individuelle Richtungen

Betrachtungen, dass dieses oder jenes "Gen" bereits diese oder jene Wirkung habe, tragen den komplexen Prozessen bei der Ausbildung eines in der Zelle wirksamen Produkts keine Rechnung. Insbesondere die Blickrichtung ist falsch: Nicht das "Gen" (die DNA) enthält Informationen, sondern die Zelle und die in dieser ablaufenden Prozesse "sagen", aus welcher DNA Information gebildet wird. Sie "sagen" auch, welche Information aus einer DNA-Sequenz gebildet wird. So entstehen aus einer DNA-Sequenz oft unterschiedliche Produkte auf Protein-Ebene.

Schauen wir uns nur den letzten beschriebenen Prozess an, so können schon dort aus einer Aminosäuresequenz durch Faltungen, Umorganisationen chemischer Gruppen und/oder Abspaltungen von Teilen der Aminosäuresequenz zahlreiche unterschiedliche Produkte resultieren, die eine unterschiedliche Lokalisation, Aktivität und Reaktivität in der Zelle aufweisen. Ein allseits bekanntes Beispiel ist das Insulin - es erhält erst seine aktive Form, die u.a. den Blutzuckerspiegel senkt, wenn Bereiche der Aminosäuresequenz herausgelöst werden. Dabei soll es nicht darum gehen, nun "die Prozesse" als vorstrukturierende Einheiten vorauszusetzen - ganz im Gegenteil: An ihnen sind viele Faktoren beteiligt, sie liegen in keinem stets gleichen, statischen Raum vor, vielmehr sind diese Prozesse zu jedem Zeitpunkt offen für Einflüsse verschiedenster Art.

Die Konsequenz dieses Denkens ist, dass die Entwicklung eines Individuums und die Entwicklung eines "Genitaltraktes" nur individuell erfolgen kann. Viele beteiligte Faktoren, einwirkende Einflüsse, beispielsweise aus dem mütterlichen Organismus und aus der übrigen Umgebung, machen dies deutlich, da sich diese Faktoren und Einflüsse bei jedem Individuum unterschiedlich darstellen werden. Das bedeutet, dass sich auch der "Genitaltrakt" individuell ausbilden muss - und im Vergleich mehrerer Individuen stets zwischen diesen verschieden. Mit solchen Betrachtungen kann eine weitere Grundlage gelegt werden, binäre Geschlechtereinteilungen zu erschüttern, da sie den vermeintlich sicheren Rest angehen, dass es organisch doch "weiblich" oder "männlich" gäbe. Organisch gibt es sie nicht - Entwicklungstheorien weisen in individuelle, vielgeschlechtliche Richtungen.

Heinz-Jürgen Voß

 

Weiterlesen: Aufsatz "Angeboren oder entwickelt?" (pdf-Datei) und die Bücher: Geschlecht: Wider die Natürlichkeit (2011, 180 Seiten, 10 EUR), Making Sex Revisited (2010, 466 Seiten, 34,80 EUR).